Sie spannt sich über das Oberwiesenfeld wie die Netze der Baldachinspinnen über Wiesen und Kräuter: die Dachkonstruktion von Münchens einstmals spektakulärer Spielstätte der XX. Olympischen Spiele fordert den Vergleich geradezu heraus

Jahrelang war es das Heimstadion der Clubs 1. FC Bayern München und 1860 München und diente bei rund 12.000 zumeist sportlichen Veranstaltungen mit mehr als 188 Millionen Zuschauern als Austragungsort: Das Olympia-Stadion auf dem Münchener Oberwiesenfeld ist Deutschlands meistgenutzte Sport- und Verantsaltungsstätte. Gebaut für die Ausrichtung der XX. Olympischen Spiele 1972 ist das charakteristischste Merkmal dieser weitestgehend in die Landschaft eingebetteten Anlage ihr spektakuläres Zeltdach. Ein „Hauch von Dach“, das an 58 Stahlmasten aufgehängt und insgesamt 74.800 Quadratmeter groß, das Olympiastadion, die Olympiahalle und die Olympia-Schwimmhalle überspannt.

Gleichermaßen als visionär wie auch als gewagt anzusehen, wird dieses verblüffende, aus einzelnen Plexiglasfeldern bestehende Flächentragwerk ob seiner eigenwilligen Formgebung immer wieder mit einem filigranen Spinnennetz verglichen. Nicht etwa mit den Radnetzen unserer Kreuzspinnen, die sich vertikal als von drei Punkten definierte Ebene in die Luft spannen, sondern mit jenen an Zeltdächer gemahnenden Baldachinen, die sich auf Wiesen und Brachflächen gerne horizontal über Gräser und niedrige Sträucher hinweg spannen.
Abgekupfert bei Lehrmeisterin Natur?

Und genau dieser Eindruck inspirierte auch zu folgender Frage: Was ist dran an dieser Ähnlichkeit und welches Gebilde erweist sich am Ende als das raffinierteste und vor allem stabilste? Doch vor einer Suche nach Antworten zunächst ein wenig zur Geschichte des mittlerweile unter Denkmalschutz stehenden, rund 40 Jahre alten Münchner Olympiastadions. So spektakulär der Bau im Jahr 1972 gewirkt haben muss; bereits 1967 war ein erstes Mal ein ähnliches Bauwerk entstanden: Der vom Architekten Frei Otto entworfene Deutsche Pavillon der Expo 1967 in Montreal, der mit einer so noch nie da gewesenen Seilnetz-Membrankonstruktion weltweit für Furore sorgte.

Dieses verblüffende Dach hatte unter anderem die Stuttgarter Architekten Behnisch und Partner bei ihrem Beitrag zum Wettbewerb für die Sportstätten der XX. Olympischen Spiele in München inspiriert, den sie nicht zuletzt eben gerade wegen ihres visionären Flächentragwerks zur Überdachung des Hauptstadions und der Nebengebäude für sich entscheiden konnten. Freilich standen sie bei der Umsetzung des Konstruktionsentwurfes dann vor einer Herausforderung ganz anderer Dimensionen. Denn im Vergleich zum Expo-Dach in Montreal musste in München eine mindestens sieben Mal so große Fläche überdacht werden.

Hier war nicht allein das große Stadion, das während der Spiele 77.000 Zuschauer fassen, nacholympisch sogar 81.000 Zuschauern Platz bieten sollte, unter Dach und Fach zu bringen, sondern überdies die flächenmäßig noch weit größere Olympiahalle mit einem Fassungsvermögen von 12.150 Sitzplätzen und einer Längen- und Breitenausdehnung von 200 x 120 Metern sowie die Olympia-Schwimmhalle mit einer Gesamtkapazität von rund 9.000 Zuschauersitzplätzen.
Bei ihrem Entwurf waren Behnisch und Partner indessen ursprünglich von der Überspannung mit unterschiedlichsten, jedoch lichtundurchlässigen Materialien ausgegangen; ein Umstand, der das Veto der am Planungsstab beteiligten Vertreter des Fernsehens nach sich zog. Hatte man doch bei mehreren vormaligen Fußballübertragungen beobachtet, dass die Stadionbedachungen sehr große Schlagschatten auf das Spielfeld warfen und die Fernsehkameras die starken Lichtkontraste nicht ausgleichen konnten. So zog sich die Entscheidungsfindung zugunsten des vorgeschlagenen Daches, für das am Ende durchsichtiges, gerecktes Plexiglas Verwendung fand, lange hin. Die Sportstätten waren bereits im Bau während Architekten und Ingenieure im Institut für leichte Flächentragwerke in Stuttgart noch Mess- und Zuschnittsmodelle im Maßstab 1:125 bauten.
Bastelarbeiten als Vorlage

Dies kam nicht von Ungefähr: Da Seile keine Biegespannungen aufnehmen können und sich idealerweise elastisch dem wirkenden Kräfteverlauf anpassen, konnte die resultierende Form des Netzwerks nur anhand der Nachbildung der tatsächlich in den einzelnen Seilen wirkenden Kräfte gewonnen werden. Ohne die Möglichkeiten virtueller Modelle in aufwändigen Computersimulationen war das damals nur mittels eines exakt maßstäblichen Modells zu bewerkstelligen. Nur so waren präzise die Geometrie der Tragwerksflächen und die Positionen der Kreuzungspunkte der einzelnen Trag- und Zugseile zu bestimmen. Die einzelnen Abmessungen konnten dann, aus dem Modell gewonnen und maßstäblich hochgerechnet, für die Bauausführung verwendet werden.

Dennoch stellten die Ingenieure fest, dass bei Teilen der Konstruktion die so erreichbare Genauigkeit nicht ausreichen würde. Nach über einjähriger Entwicklungsarbeit am Institut für Raumfahrtkonstruktionen der Universität Stuttgart konnte dann für die besonders heiklen Teile der Konstruktion ein rein mathematischer Weg zur Ermittlung des Kräfteverlaufs gefunden werden. Mit Hilfe dieses Modells wurde das Dach der Schwimmhalle erstmals mit Hilfe von Computern vollständig berechnet. Diese Rechnungen waren für die damals zur Verfügung stehende Technik jedoch derart aufwendig, dass eine Gruppe von Bundeswehrsoldaten abgestellt werden musste, um tausende von Lochkarten auszuwerten um so die einzelnen Rechenschritte zusammenzufügen. An der Projektierung und der Berechnung arbeiteten über 100 Ingenieure gleichzeitig zusammen.
Gewaltige Rechenleistung

Hier müssen wir bereits ein erstes Mal zu unseren achtbeinigen Zeitgenossen herüber schielen. Haben Sie schon einmal ein Spinnennetz gesehen, bei dem nicht alle Fäden wundersam gleichmäßig unter Spannung stehen? Genau! Nicht ein Einziges! Man halte das einmal nebeneinander: Hier Rechenmaschinen und ein Heer von Ingenieuren; dort ein Wesen, das meist nicht einmal die Größe des letzten Glieds unseres kleinen Fingers erreicht! Dennoch versteht es die Spinne sehr präzise, ihr Netz mit idealer Vorspannung zu versehen. Ohne Modell. Mit einem exakten Plan im Kopf. Beziehungsweise im Kopf-Brustglied ihres Körpers.
Variable Netz-Architektur

Indessen folgt die Konstruktion eines Spinnennetzes immer einem recht einfachen Grundmuster; ästhetisch motivierte Lösungen eines statischen Problems wie die raffinierte Konstruktion am Oberwiesenfeld sucht man hier vergebens. Dabei sind auch die „Spielwiesen“ unserer achtbeinigen Gesellen komplexe Gebilde. So können Spinnen je nach Art bis zu sieben unterschiedliche Seidenfäden produzieren. Die weibliche Gartenkreuzspinne etwa erzeugt neben dem Major-ampullate-Schleppseil, das sowohl als Sicherungsfaden als auch für die Erstellung des Netzgrundgerüstes Verwendung findet, noch die Minor-ampullate-Seide, die zur Verstärkung des Netzes und zur Anlage der Hilfsspirale beim Netzbau dient, Klebefäden für Anheftungspunkte des Sicherungsfadens, mittels derer die Spinne ihre Fäden an beliebigen Unterlagen anheftet, feine Seide zum Einspinnen der Beute und für die weiche Innenauskleidung des Eikokons, zähe Seide für die äußere Umhüllung des Eikokons und den äußerst elastischen Achsenfaden der Fangspirale nebst dazugehörigem Klebstoff. Für jede Fadensorte ist eine eigene Spinndrüse verantwortlich.

Verglichen damit nimmt sich das Dach des Olympia-Stadions geradezu eindimensional aus: Hier finden lediglich zwei unterschiedliche Seilsorten Verwendung. Bei dem vorgespannten Seilnetz wird nur zwischen Tragseilen und Spann- bzw. Zugseil unterschieden. Die Tragseile der Dachkonstruktion verlaufen über die Masten und tragen nach unten durchhängend im herkömmlichen Sinne die Lasten ab. Über dem Stadion übernimmt ein schweres Zugseil den Lastabtrag und die Abspannung. Es wirkt wie ein frei hängendes Seil, welches radial belastet wird und sich deshalb nach oben wölbt. So spannt es die neun teilkreisförmig zu einer Gesamtfläche von 34.550 Quadratmetern aneinandergereihten „Netze“ über die Tribüne hinweg.
Die Todesschreie von Millionen Moskitos

Hier drängt sich ein anderer Vergleich auf: Vor knapp zwei Jahren entdeckten die Parkranger im Texanischen Lake Tawakoni State Park ein gigantisches Riesen-Spinnennetz. In einem Bereich des Naturparks spannte es sich entlang eines öffentlich zugänglichen Pfads über eine Strecke von rund 180 Metern um das niedrige Blätterdach der örtlichen Vegetation und hüllte dieses nahezu komplett ein. Vom ursprünglichen leuchtenden Weiß ob tausender Insekten, die sich darin verfangen hatten, längst in ein schmutziges Braun übergegangen, entpuppte sich das vermeintliche Riesennetz jedoch als endlose Aneinanderreihung einzelner Netze normaler Abmessungen.
Insektenforscher Allen Dean machte in dem gigantischen Gebilde mehr als 250 Spinnen zwölf verschiedener Arten aus, wie er in einem Interview der Zeitung „Dallas Morning News“ ausführte. „Normalerweise sind Spinnen Kannibalen und halten ihre Netze getrennt voneinander“, wunderte sich Dean, doch hier sei es offensichtlich so, dass „die Spinnen benachbarte Netze benutzen, um ihre eigenen zu befestigen.“ Martin Kreuels von der Arachnologischen Gesellschaft in Münster berichtete bei Spiegel-Online, dass „in Mexiko Stromleitungen manchmal über mehrere Kilometer wie ein einziges Spinnennetz“ aussähen. Auch in Griechenland habe man bereits Spinnennetze von mehreren hundert Quadratmetern Größe entdeckt. „Das passiert, wenn es zu einem Massenauftreten einer Spinnenart kommt“, so Kreuels.

Die neun einzelnen Netze auf dem Münchner Oberwiesenfeld spannen sich in einer Gesamtlänge von etwa 260 Metern über die Stadion-Fläche. Einmal mehr müssen unsere ungeliebten Krabbeltierchen angesichts der Dimensionen des Stadions in München kaum vor Ehrfurcht erstarren. Obwohl im Vergleich zum Menschen erheblich kleiner erreichte ihr Bau ähnliche Dimensionen.

Im Dach des Stadions sind letztendlich über 400 km Stahlseil verspannt. Dabei besitzen die Tragseile des Olympia-Stadions eine zulässige Tragkraft von rund 150 Kilonewtonmetern; die Zugseile dagegen mit einem Durchmesser von 81 Millimetern können in Längsrichtung mit einer Zugkraft von 3 Meganewtonmetern belastet werden. Die enormen Kräfte, welche durch die gesamte Dachkonstruktion auf dieses Seil wirken, werden in zwei Schwergewichtsfundamente eingeleitet, zwischen die das Seil gespannt ist. Diese Fundamente sind gigantisch groß: sie erreichen Dimensionen von 11 x 30 x 12 Metern und damit die Größe eines Mehrfamilienhauses.
Zugversuch

Kann da der Faden eines Spinnennetzes mithalten? Hier gilt es, wie so oft, Vorsicht an den Tag zu legen. Fairerweise muss dabei selbstredend der Maßstab bedacht werden. Natürlich ist eine Stahltrosse von rund 10 Zentimetern Durchmesser belastbarer als die hauchfeinen Fäden von Spinnennetzen. Betrachtet man jedoch die maximal verkraftbare Zugspannung (Kraft pro Flächeneinheit), sieht die Sache schon ganz anders aus.
So besitzen etwa die bei uns gebräuchlichen Baustähle Zugfestigkeiten von 310 bis 630 N/mm². Das ist verglichen mit der Zugfestigkeit der Seide der erst vor einigen Jahren auf Madagaskar entdeckten Darwin-Riesenspinne (Caerostris darwini) eine eher überschaubare Größe: Caerostris darwinis Seide erreicht Werte von bis zu 1652 N/mm²!

Noch interessanter ist die Betrachtung der Bruchzähigkeit, welche die Zugspannung im Kontext der auf das Material zugleich wirkenden Dehnung betrachtet. Denn bei einem Spinnennetz kommt es darauf an, die mitunter beachtliche Energie der mit dem Netz kollidierenden Insekten zu absorbieren. Spinnenseide dehnt sich daher, um mit diesen Kräften fertig zu werden, in Abhängigkeit vom Fadentyp bis auf das zehnfache ihrer ursprünglichen Länge, bevor sie reißt.
Diesen Zusammenhang beschreibt die Messgröße der Bruchzähigkeit. Sie ist ein Maß für die Energie, die notwendig ist, um einen Faden zum Reißen zu bringen. Hier offenbart Spinnenseide erst wirklich ihre abnormen Fähigkeiten.

Liegt die Bruchzähigkeit normaler Spinnfäden bereits bei 350 MJ/m³ und damit um deutlich mehr als das zehnfache über jener der belastbarsten Stahlsorten, kommt die Seide der Superspinne gar auf 520 MJ/m³. Bei diesem Wert verblasst selbst das als ultra-reißfest bekannte Kevlar. Es erreicht gerade einmal 33 MJ/m³.
Im Reich der Riesen

Die Darwin-Riesenspinne kommt, obwohl ihr Name das erwarten ließe, keineswegs an die Größe von Vogelspinnen oder Taranteln heran. Riesig ist sie indessen im Umfeld der Untergattung Radnetzspinnen, der sie angehört. Und riesig sind bei den pelzigen Damen um so mehr ihre monströsen Netze. Professor Agnarsson und sein Kollege Matjaz Kuntner vom Smithsonian Institute in Washington, die sie 2009 auf Madagaskar in der Nähe des Namorona-River entdeckten, stellten verwundert fest, dass hier etliche Netze über den Fuß gespannt waren. Erreichten die Netze der Superspinnen standardmäßig bereits unglaubliche Spannweiten von zehn bis vierzehn Metern, fanden sie vereinzelt sogar Netze, die sich über die kaum fassbare Strecke von 25 Metern spannten! Damit sichert sich die Weltrekord-Spinne eindeutig das beste Jagdrevier – herrscht doch über naturbelassenen Wasserläufen und Flüssen im Reich der Insekten der dichteste Flugverkehr.