Die fliegende Untertasse – ein geheimes Militärprojekt

Der Raumkreuzer von Commander Cliff Allister McLane aus der deutschen Kultserie Raumpatrouille Orion macht es vor – bis weit in die Siebziger stellte man sich die Raumschiffe der Zukunft als fliegende Untertassen vor. Kaum jemand weiß jedoch, dass zuvor in den Fünfzigern und den frühen Sechzigern Militärs aus Kanada und den USA wirklich jahrelang versucht hatten, auf Basis des vom rumänischen Lauftfahrtpionier Henri Coandă entdeckten Coandă-Effekts ein solches Luftfahrzeug zu bauen
Im Frühjahr 1952 kämpfte sich Omond Solandt im Örtchen Malton nahe Toronto auf der Suche nach einem Ingenieur namens John C. Frost durch die Werkshallen des kanadischen Flugzeugbauers A.V. Roe Canada Limited, eine Dependance des nach dem englischen Flugzeugpionier Sir Edwin Alliott Verdon Roe benannten britischen Herstellers AVRO. Seit 1946 lief hier in Malton die Entwicklung des Militärflugzeugs CF-100 Canuck Jet Fighter, eines allwettertauglichen Abfangjägers.
Doch nachdem 1952 endlich die Serienfertigung dieses einzigen jemals in Serie gebauten kanadischen Jägers angelaufen war, musste AVRO John Carver Meadows Frost, der an leitender Stelle zum Entwicklunggsteam des Jägers gehörte, in einem neuen Projekt unterbringen. So hatte man ihm die Position des Chefingenieurs der brandneuenAbteilung Special Projects A.V. Roe (SPAR) angeboten.Seither arbeitete der Brite, der bei Erprobung von Flugzeugen, an denen er beteiligt war, auch schon einmal auf dem Sitz des Co-Piloten mitflog, an der Entwicklung eines Senkrechtstarters, der bei den Kanadiern unter dem Namen "Project Y" geführt wurde.

Ufo-Hysterie und Kommunismus-Paranoia

Bis jetzt war Frost mit seinem eingeschworenen Team zwar noch nicht über das Konzeptstadium hinaus gekommen, doch das reichte bereits, um Solandts ganz spezielles Interesse zu wecken. Als damaliger Vorsitzender des kanadischen Defence Research Board oblag Solandt nämlich die Führungsrolle in einer zwei Jahre zuvor vom Kanadischen Minister für Wohlfahrt und Verteidigung, Brooke Claxton, einberufenen Komission, die allen Ernstes die mögliche Existenz fliegender Untertassen und die davon eventuell ausgehende Bedrohung untersuchen sollte.
Aus heutiger Sicht eine hanebüchene Mission. Doch zu Beginn des kalten Krieges zwischen den beiden aufkommenden Supermächten zeigten sich hochrangige Politiker und Militärs höchst beunruhigt von einer seltsamen Häufung von Aussagen ehemaliger deutscher Ingenieure, die berichteten, an der Zeichnung und am Bau untertassenähnlicher Maschinen beteiligt gewesen zu sein. Das deckte sich auf fatale Weise mit Verhörprotokollen deutscher Soldaten, die vom Umgang mit untertassenähnlichen Fluggeräten berichteten. Da man selbst jedoch in dieser Hinsicht über keine tiefer gehenden Informationen verfügte, stand ergo zu befürchten, dass sich stattdessen die Russen das dementsprechende Wissen gefangengenommener deutscher Ingenieure angeeignet haben könnten. Eine Befürchtung, die durch das vom Stalin-Regime in den späten vierziger Jahren wiederholt in Umlauf gebrachte Foto eines Nur-Flügler-Versuchsfliegers der Brüder Horten scheinbar bestätigt wurde. War der Westen ohne es zu merken im Begriff, gegenüber den Kommunisten technologisch den Anschluss zu verlieren?

Reaktivierung begrabener Flugkonzepte

Als Solandt Frosts kleine Abteilung endlich gefunden und Einlass erhalten hatte, traute er zunächst seinen Augen nicht. Denn mit einem mal stand vor dem Modell eines Fluggeräts, das so wirkte, als wäre es von einer anderen Welt. Sichtlich beeindruckt, hörte Solandt aufmerksam zu, als Frost den augenblicklichen Entwicklungsstand referierte, sprach ihm jegliche Unterstützung zu und stellte erste $ 300,000 für die weitere Entwicklung in Aussicht. Genauso plötzlich, wie er aufgetaucht war, war Solandt anschließend wieder verschwunden.
Frost wusste nicht so recht, was er von diesem ersten Auftreten Solandts halten sollte. Als ein leidenschaftlicher Luftfahrtingenieur hatte er schließlich nichts anderes getan, als das, was wahrscheinlich jeder tun würde, der mit der Aufgabe betraut wird, ein Gerät zu entwickeln, dass es so noch gar nicht gibt: Er hatte erst einmal alle Ansätze gesichtet, die bislang in Richtung eines senkrecht startenden Fliegers unternommen worden waren. Recht schnell war er dabei über denvon Charles Horton Zimmerman beim US-amerikanischen Flugzeugbauer Chance Vought entwickelten Prototypen V-173 gestolpert. Ein Experimentalfugzeug, das, angelehnt an das Konzept eines Nur-Flüglers, sich seine hufeisen- oder spatenförmige Gestalt zur Entwicklung einer extremen Kurzstartfähigkeit zunutze machte. Bereits beim Erstflug 1942 war es der 1.360 kg schweren V-173 bei Windstille gelungen nach einem Anlauf von nur 60 Metern abzuheben, bei Gegenwind startete die in einem steilen Winkel von 22 Grad himmelwärts gerichtete, zweimotorige Maschine (9) sogar aus dem Stand und bewies an enorm großen Propellern hängend sogar Schwebeflugeigenschaften.
Von all dem hatte Solandt offenbar nichts gewusst. Denn die Verwandtschaft beider Fluggeräte war offensichtlich. Wenn auch nicht in jeder Hinsicht. Für den Antrieb hatte Frost, und hier bewährte sich, das sowohl er als auch sein Arbeitgeber bereits über ausgiebige Erfahrung mit Strahltriebwerken verfügten, ein revolutionäres System erdacht: Ein im Zentrum des Fluggeräts angeordnetes Mantelstromgebläse, das im Zusammenspiel mit einer Gasturbine ausreichend Schub erzeugen sollte, um Project Y abhebenzulassen.Der Luftstrom sollte aus dem stumpf endenden Heckbereich sowie seitlich angeordneten Schlitzen entweichen.

Die US Air Force alls rettender Anker

Doch auch im Laufe des Jahres 1953 war Project Y nicht über ein hölzernes mock-up und unzählige technische Zeichnungen hinaus gekommen. So wich beim Defence Research Board die Begeisterung sehr schnell einer Ernüchterung. Mit der Folge das auch der Strom von Fördergeldern versiegte. Damit schien das ambitionerte Projekt bereits am Ende zu sein. Doch Solandt hatte Frost während ihrer kurzen Zusammenarbeit unter anderem mit dem Chef des Air Research and Development Command der US Air Force, General D.C. Putt, in Kontakt gebracht.Bei der AirForce liefen zu dieser Zeit verschiedene Machbarkeitstudien zu unterschiedlichsten Senkrechtstarter-Projekten. Frost war von USAF eingeladen worden, Project Y vorzustellen und war mit der Aussicht auf $ 758.000,00 weiterer Fördergelder nach Hause gefahren. Im July 1954 unterschrieben die Amerikaner zwei Kontrakte im Wert von nahezu 2 Millionen Dollar verbunden mit dem Auftrag, die Studien fortzusetzen und ein neues, anspruchsvolleres Fluggerät mit dem Namen Waffensystem 606A zu entwickeln.
Die Arbeiten sollten bei AVRO nunmehr aber unter absoluter Geheimhaltung weitergeführt werden. Hier wurde das Projekt daher fortan unter P.V. 704 geführt, wobei „P.V.“ für Private Venture steht. Reine Privatsache also. Die Spezifikationen, die die Amerikaner Frost mit auf den Weg gegeben hatten, waren überaus anspruchsvoll: Das neue Waffensystem sollte Geschwindigkeiten von bis zu 3.700 km/h erreichen und in Höhen von bis zu 24.600 Metern operieren, sowie in Höhen von 5.500 Metern Schwebeflugeigenschaften besitzen. Aus heutiger Sicht damals völlig utopische Werte, die mit konventionellen Flugzeugen erst Anfangs der sechziger Jahre erreicht wurden. Die damals grassierende Technikgläubigkeit indes schien derlei Leistungswerte in greifbarer Nähe erscheinen. Zumindest hatte Frost kein Problem damit gehabt, dass man seinem Flieger derlei ins Lastenheft schrieb.

Paradigmenwechsel: Ein neuer Ansatz entsteht

Klar war nur, dass er die Sache völlig neu angehen musste. Denn für die nunmehr geforderten Flugleistungen würde ein einziges Strahltriebwerk bei weitem nicht ausreichen. Und um eine möglichst große Wendigkeit im Luftkampf zu gewährleisten, wären möglichst kurze Flügel ideal – ein Ansatz, der auch bei dem seit 1953 konzipierten F-104 Starfighter in die Tat umgesetzt wurde. So begann Frost, sich mit dem von dem rumänischen Physiker und Luftfahrtpionier Henri Coandă entdeckten Coandă-Effekt auseinanderzusetzen. Coandă hatte 1910 beim ersten (und einzigen) Flug mit dem von ihm konstruierten Doppeldecker mit Thermojet-Antrieb beobachtet, dass die aus den Brennkammern austretenden Flammen eng anliegend der Rumpfform folgten, was am Ende dazu führte, dass sein Doppeldecker Feuer fing und abstürzte. Diesem Phänomen auf der Fährte hatte Coandă in der Folge die Idee zu einem „Aerodina Lenticulara“ genannten Luftkissenfahrzeug entwickelt, dessen gewölbte und notwendigerweise kreisrunde Form den Luftstrom eines oben angebrachten Gebläses um das Vehikel herum nach unten ablenken würde.

Die Nutzung des Coandă-Effekts

 In früheren Modellversuchen hatte sich bereits gezeigt, dass scheibenförmige Luftfahrzeuge diesen Effekt nutzen und ihre Flugsteuerung durch eine gezielte Ablenkung der Fließrichtung entlang der kreisrunden Kante der Scheibe bewerkstelligen konnten. Mit der nun zur Verfügung stehenden viel weiter entwickelten Technik und einer deutlich höheren Leistung sollte es möglich sein, auf Coandăs Konzept aufbauend die geforderten Flugeigenschaften zu realisieren. So sah Frost für P.V.704, das bei AVRO unter vorgehaltener Hand längst unter dem Namen Silverbug gehandelt wurde, nun die Form einer gewölbten Scheibe vor. Der zum Abheben erforderliche enorme Luftstrom sollte dabei durch einen ringsum verlaufenden Spalt zwischen der unteren und oberen Scheibenoberfläche austreten und durch den Coandă-Effekt von einer entsprechend gerundete Kante nach unten abgelenkt werden. Bei zunehmender Geschwindigkeit in der Horizontalen sollte dann die dem Querschnitt eines Flügels angenäherte aerodynamische Form der Scheibe für ausreichend Auftrieb sorgen. Was es wiederum ermöglichen würde, einen stetig zunehmenden Teil des Luftstroms zum Zwecke der weiteren Beschleunigung nach hinten umzulenken.
 Insoweit beschritt P.V.704 also einen gänzlich neuen Weg. Anders dagegen das grundlegende Antriebskonzept: Die Erzeugung des Luftstroms hatte sich Frost nämlich nach dem gleichen Prinzip gedacht, wie es auch bei Project Y vorgesehen war. Ein ringförmig um die zentrale Pilotenkanzel angeordnetes Mantelstromgebläse sollte den Luftstrom erzeugen. Nur sollte dieser Impeller erheblich größer ausfallen als beim ersten Entwurf und statt einer sollten nun insgesamt sechs Armstrong Siddeley Viper 8 Turbojets auf die rechtwinklig abstehenden Schaufeln einer konzentrisch um das Gebläse gelegten Blattspitzenturbine arbeiten.
Finanziell deutlich besser ausgestattet schritten Frosts Arbeiten diesmal zügig voran. Die zentrale Sektion des Fluggeräts wurde 1:1 nachgebaut und 1956 in einem eigens konstruierten Prüfstand einem Test unterzogen. Aus einem bunkerähnlichen Kontrollstand verfolgte Frosts Team den Testlauf. Er endete in einem totalen Desaster. Die Maschine zerlegte sich selbst. Herumfliegende Teile hätten um ein Haar noch einen der Techniker erschlagen. Der Testverlauf überzeugte auch den letzten Zweifler, dass diese Konstruktion niemals fliegen würde. 
 

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Teil 2 der Geschichte unter: „Vom Aerodina Lenticulara zum VZ-9AV“

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