Abstieg in die Unterwelt

Zusammengenommen umfasst das Bahnprojekt Stuttgart-Ulm Tunnelbauten von rund 60 Kilometern Länge und liegt damit weit vor der Streckenlänge des Gotthard-Basistunnels. Insofern darf man ruhigen Gewissens von Deutschlands größter unterirdischer Baustelle sprechen. Besuch in einer der Tunnelbaustellen unter der Schwaben-Metropole
„Also, da unten immer schön aufpassen, wohin Sie treten! Und nicht vergessen: Baufahrzeuge haben auf der Baustelle Vorfahrt. Im Zweifelsfall sieht Sie der Fahrer nicht einmal, bevor er Ihnen über die Füße fährt!“ Sicherheitseinweisung im Büro von Georg Hofer. Bereits vormittags um zehn steht in dem engen Raum im zweiten Stock eines unscheinbaren 50er-Jahre-Baus an der Ulmer Straße in Stuttgart-Wangen die Luft. Es ist Anfang Mai 2018, doch die Temperaturen haben in diesem Jahr bereits ein beinahe unerträgliches Niveau erreicht.

Das Tor ins Schattenreich

Bloß raus hier! Der Ausgang führt auf das rückwärtige Areal des Gebäudes, das wie ein x-beliebiges Industriegelände anmutet. Zur Linken stehen einige Silos und geradeaus dominiert ein stattlicher Brückenkran das Gelände. Von hier aus soll es unter Tage gehen? Ganz genau! Neben dem Brückenkran, aus fünfzig Meter Entfernung bereits kaum noch wahrnehmbar, klafft nämlich ein tiefes Loch im Boden. Eine kreisrunde Öffnung mit dem Durchmesser von gut und gerne 25 Metern gewährt einen rund 40 Meter tief reichenden Blick in die Eingeweide der Metropole. Hofer folgend führt der Weg in die Kabine eines Aufzugs. Vom Rand der Öffnung aus arbeitet sich das klapprige Gefährt in die Tiefe. Durch ein orangefarbenes Gitter kommen vier mächtige Lüftungsrohre in Sicht, die uns auf dem Weg nach unten begleiten und kurz vor dem Ende der Fahrt seitlich nach links ins Dunkel abknicken.
Unten angekommen wartet ein mächtiger Stollen, dessen Ende nicht mehr auszumachen ist. Ein kurzer, fast unmerklicher Blick Hofers hinauf zur Figur der heiligen Barbara, die hier rechts oben über dem Eingang in die Unterwelt über das Wohlergehen aller Mineure wacht, dann hält der Österreicher forschen Schrittes auf das Schattenreich zu. Per SUV geht es tief hinein in ein weit verzweigtes Höhlensystem, das von einem durchweg konstanten Profil/Querschnitt geprägt ist. So umfassend also hat man hier in Verfolgung des Bahnprojekts Stuttgart-Ulm bereits den Untergrund perforiert!

Neue Wege beschreiten

Unzählige Kilometer werden sich die Tunnelbauer am Ende durch den Boden Stuttgarts gefressen haben. Einmal im Kreis herum müssen sie die Stollen durch den Untergrund der Schwaben-Metropole treiben, so wie zahlreiche von diesem Rund sternförmig abzweigende Äste nach Zuffenhausen, Obertürkheim und Filderstadt etwa. Sie sollen die tief in einem Talkessel gelegene Stadt später einmal an das Fernverkehrsnetz und die um sie gewachsenen Ballungräume anbinden.
„Wir haben hier in Stuttgart ein Problem“, hatte schon auf der Fahrt zur Ulmer Straße Michael Deufel, der für diese Baustellenbesichtigung zuständige Pressesprecher des Bahnprojekts Stuttgart-Ulm, zur Einstimmung gesagt, „dessen wir mit dieser gigantischen Baumaßnahme versuchen, Herr zu werden: Hier leben auf zu engem Raum zu viele Menschen!“ Stuttgarts S- und U-Bahnen, so Deufel, operierten längst an ihrer Belastungsgrenze.
So wird hier in der Enge des Talkessels nichts weniger als die Neuordnung eines gigantischen Eisenbahnknotens ins Werk gesetzt. Kernstück ist der Umbau des 1922 eröffneten Kopfbahnhofs in einen um 90 Grad gedrehten Durchgangsbahnhof. Und weil dessen notwendige Zuwegung an der Oberfläche samt und sonders verbaut ist, bleibt eben nichts anderes übrig, als sämtliche Zulaufstrecken und damit auch den Bahnhof unter die Erde zu verlegen. Zugleich soll ein – vor allem für den Fernverkehr – lästiges Nadelöhr auf dem Weg von Stuttgart in Richtung Osten beseitigt werden: Die bereits 1850 in Betrieb genommene Geislinger Steige, die wegen ihrer engen Radien mit einer Höchstgeschwindigkeit von lediglich 60 Kilometern in der Stunde befahren werden kann, soll einen Bypass erhalten. Und weil der bislang nur schlecht angebundene Stuttgarter Flughafen nicht weit vom künftig in Richtung Ulm einzuschlagenden Weg entfernt liegt, soll die Strecke nach Süden noch einen kleinen Haken schlagen, um auch dieses Manko zu beseitigen. So kommt ein stattliches Paket zustande: Insgesamt 57 Kilometer Gleise müssen verlegt, zusammengenommen knapp 30 Kilometer Tunnel durchs Erdreich getrieben, 18 Brücken errichtet und drei neue Bahnhöfe gebaut werden. Willkommen auf Deutschlands derzeit größter Baustelle.

Sechs Meter unter dem Neckar

Als wir nach knapp fünfminütiger Fahrt unmittelbar vor einer Verzweigung des Stollens aus dem Wagen steigen, führt uns ein kurzer Marsch über Geröll und Pfützen zur „Ortsbrust“, jener Stelle des Tunnels also, an der gerade der Vortrieb stattfindet. Im Stadtgebiet von Stuttgart ist das durchweg der Sprengvortrieb. Gerade kratzt ein Spezialbagger unter Fortsetzung des Tunnelquerschnitts die Reste einer vorangegangenen Sprengung von der Tunnelwand. Als er nach einstweilen getaner Arbeit abrückt und der Lärmpegel eine halbwegs normale Verständigung zulässt, beschreibt Hofer die folgenden Schritte. Die Sprengung erfolge hier für die obere und die untere Tunnelhälfte getrennt.
Bei der oberen Kalotte müsse man nämlich sehr behutsam und mit reduzierter Sprengkraft arbeiten. Vor der Sprengung der oberen Hälfte des Tunnels würde zudem entlang der Krümmung der Tunneldecke eine Reihe von Bohrungen in die Ortsbrust getrieben, die anschließend mit einer Zementinjektion gefüllt werden. „In diesem Bereich ist ein solches Vorgehen unabdingbar“, klärt der erfahrene Tunnelbauer auf. „Die Füllung dämpft die Explosion nach oben. Und das ist hier durchaus kein Fehler. Denn von da aus“, deutet er in Richtung der Tunneldecke, „sind es kaum mehr als 6 Meter bis zu Neckarsohle.“ Und was man hier heraussprenge, führt er – durchaus im Bilde, welche Wirkung seine Worte haben – genüsslich aus, sei eine stark mit Kies durchsetzte, sehr harte Tonschicht, die sich, „wie der Boden unter Ihnen, bei Kontakt mit Wasser recht schnell in Matsch verwandelt.“ Deshalb wird die Tunnelwand auch unmittelbar nach der Sprengung mit Spritzbeton verkleidet.
Überhaupt sei dies der anspruchsvollste Abschnitt in dem von ihm verantworteten Los 1A, denn hier verzweigten sich dieser vom künftigen Hauptbahnhof wegführende, ebenso wie der benachbarte, auf den Bahnhof zu führende Parallelstollen in nördlicher und südlicher Richtung, um nach Inbetriebnahme Züge am Ostufer des Neckar entlang sowohl nach Bad Cannstatt als auch nach Obertürkheim und Esslingen verkehren zu lassen. Just unter dem Neckar liegen demnach auf unterschiedlichen Ebenen also vier Tunnel übereinander.

Jeder Schritt beginnt mit einem Knall

Hier an der Ortsbrust steht unterdessen die Vorbereitung für die Sprengung der unteren Kalotte an. Nachdem ein Radlader den Aushub des Baggers zum Abtransport auf einen Dumper geladen hat, rollt nun, den gesamten Bereich in grelles Licht tauchend, das Bohrgerät heran. Doch bevor die zwei Arme des Monstrums mit ohrenbetäubender Geräuschkulisse ihre Arbeit aufnehmen, scheint die Maschine kurzzeitig in einen Ruhezustand zu verfallen. „Wenn das Bohrgerät die Ortsbrust erreicht hat, schließen wir es an die Kraftstromleitung an, um es von Diesel- auf Elektrobetrieb umzustellen“, erwidert Hofer die fragenden Blicke, die ihn treffen. „So behalten wir die Emissionen im Griff.“
Eine Viertelstunde später ist der Bereich von Bohrlöchern durchsiebt. Kaum ist auch das getan – so eng ist auch hier unten die Arbeit getaktet – rückt bereits der Sprengmeister mit einem Spezialfahrzeug an. Auch seine Arbeit ist relativ schnell getan. Ein Warnton fordert alle, die sich in der Röhre aufhalten, auf, Deckung zu suchen. „Ohren zuhalten und Mund auf!“, so sein Kommando. Die Zündmaschine wird geladen. Doch nach Drücken des Zündknopfes regt sich einstweilen nichts. Letztlich wird beschlossen, eine Ersatzleitung zu legen. Diesmal klappts. Der Boden bebt. Wie die Arbeitstakte eines langsam laufenden Diesels kann man die einzelnen Explosionen mitzählen. Der Vergleich ist gar nicht so falsch: Die Sprengladungen, überdimensionale Würste in leuchtendem Orange, sind mit einer an Knetmasse gemahnenden Mischung gefüllt, die, so der Sprengmeister, im Wesentlichen aus Kunstdünger und Dieselöl besteht. Hinzu kommen noch einige weitere Zusätze, über die er sich an dieser Stelle natürlich nicht auslassen könne. Nun gut.

Scheideweg ohne Wegweiser

Nach Weiterfahrt im Stollen der anderen, nach Obertürkheim führenden Zweigstrecke werden wir noch Zeugen genau jenes Arbeitsschritts, der auf dem soeben verlassenen, auf Bad Cannstatt zuführenden Stumpf des Tunnelsystems bereits vollendet war: Die Füllung jener unmittelbar unter der Krümmung der Tunneldecke eingebrachten Bohrungen mit Spezialzement. Sehen kann man dabei freilich nicht viel: Oben an der Tunneldecke machen sich zwei Mineure in den Gondeln eines weiteren Bohrgeräts mit allerlei Schlauchleitungen zu schaffen, in einem Container überwacht ein Dritter am Monitor die Arbeit der Hydraulik, welche die draußen angerührte Mixtur durch das Schlauchsystem ins Erdreich presst. Mehr als zwei Stunden unter Tage ergibt sich nach zahllosen Fotostopps und vielen gestellten Fragen ein durchaus dichtes Bild von der Arbeit, die hier über Jahre rund um die Uhr geleistet wird.

Fortsetzung unter „Tunnelbau am Fließband“

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