Vom Aerodina Lenticulara zum VZ-9AV

Der Rückgriff auf ein längst entdecktes physikalisches Phänomen, ein erfolgloser Ansatz aus dem Dunstkreis der Flugzeugentwicklung des dritten Reichs und der Beginn des Rüstungswettlaufs zwischen Nato und Warschauer Pakt gehören dazu: Getrieben von dieser Gemengelage forschten Kanadier und Amerikaner bis in die sechziger Jahre an einem scheibenförmigen Fluggerät – dem AVROCAR

Kurz vor Beginn des Jahres 1957, nachdem das Projekt bei AVRO bereits mit mehr als 2,5 Millionen Dollar zu Buche schlug und weitere 1,8 Millionen Dollar der USAF verschlungen hatte, stand Frost vor einem Scherbenhaufen. Doch die Amerikaner wollten so schnell nicht aufgeben. Nur hatten sie zu diesem Zeitpunkt mit dem 1954 erstmals erfolgreich im Flug getesteten Lockheed F-104 Starfighter, dessen Serienfertigung schon begonnen hatte, und der seit 1956 getesteten Convair F-106längst Zugriff auf Kampfjets, die Mach 2, respektive Mach 2,31 erreichten. Damit hatten sich die Interessen der Air Force in eine völlig andere Richtung verschoben. So tat sich die USAF mit U.S. Army zusammen und legte ein gemeinsames Programm mit einem Budget von fast 4,5 Millionen Dollar auf, um von AVRO zwei Prototypen eines in Erdnähe bei Geschwindigkeiten von 480-500 Kilometern in der Stunde einsetzbaren Gefährts zur Luftunterstützung von Bodentruppen bauen zu lassen. Dank seiner Schwebeflugfähigkeiten würde das von den Amerikanern VZ-9AV genannte Fluggerät zudem unterhalb des feindlichen Radars operieren.

Die neue Konstruktion nimmt Gestalt an

Das bedeutete für Frost abermals bei Null anzufangen. Natürlich konnte er einige Konstruktionsdetails beibehalten beziehungsweise weiterentwickeln. So etwa das zugrunde liegende Antriebskonzept mit dem mittig angeordneten Mantelstromgebläse und seinem Antrieb durch nunmehr drei Continental J-69-T-9 Jet-Triebwerke. Diese ordnete er bei seinem neuen Entwurf allerdings nicht mehr sternförmig sondern tangential um das zentrale Gebläse an. Außerdem sorgte er dafür, dass sich der Luftmassenstrom des auf einen Durchsatz von 150 kg/s angelegten, mehr als eineinhalb Meter großen Impellers mit den Abgasen der Jet-Triebwerke mischte und gemeinsam durch zwei ringförmig um das kreisrunde Gerät gelegte Auslassschlitze entweichen konnte. Da das Fahrzeug jetzt auch längere Zeit im Bereich des Bodeneffekts operieren sollte, war für die Erzeugung eines stabilen Luftkissens unter dem Rumpf von besonderer Bedeutung. Auch die Steuerung hatte Frost weiter entwickelt. Hierzu sollte der Gebläsestrahl über Leitbleche geführt werden, die Frost in den beiden umlaufenden, übereinander liegenden Schlitzen anordnete. Diese Leitbleche wiederum wurden über ein komplexes Hebelsystem angesteuert, dass die vom Steuerknüppel abgeleiteten Befehle entsprechend auf die einzelnen Klappen verteilte.

Erste Flugversuche

Es hatte bis zum November des Jahres 1959 gedauert, bis es endlich so weit war: Frosts Mitarbeiter schoben den ersten Prototypen zu ersten Tests auf die Rollbahn. Für die ersten Tests wurde VZ-9AV in ein Testgestell eingespannt. Endlich konnte Forsts Team ein ersten Erfolg für sich verbuchen: Die silberne Scheibe löste sich, soweit die Fesselflugeinrichtung dies zuließ, unter ohrenbetäubendem Lärm vom Boden. Gegen November gab Frost dann das okay für einen ersten Freiflug auf dem AVRO-Gelände im Malton. Testpilot im Cockpit war Mladyslaw "Spud" Potocki. Während die wenigen Techniker, die diesen wichtigen Moment verfolgten, Deckung suchten vor den Eisschollen, die, von dem sich allmählich unter dem Fluggerät aufbauenden Luftkissen getrieben, über den Asphalt fegten, gelang es Potocki in der Tat, in den Schwebeflug überzugehen.
Doch kaum hatte er sich vom Boden gelöst, hatte er schwer damit zu kämpfen, VZ-9AV stabil in der Luft zu halten. Am Ende musste Frost sich eingestehen, dass dieser erste Test die gleichen Probleme offenbarte, die sich auch schon in früheren Studien gezeigt hatten: VZ-9AV zeigte die Neigung zu einer kaum kontrollierbaren Nickbewegung, die einherging mit unvorhersehbaren, heftigen Roll-Bewegungungen. Schnell hatten die AVRO-Leute für dieses auch in weiteren Test beobachtete charakteristische Bewegungsmuster einen Namen gefunden: Sie nannten es „hubcapping“.

Konstruktiv bedingtes „Hubcapping“

So konnte Frost den Prototypen nicht den Amerikanern übergeben. Doch für grundlegende Änderungen war die Zeit zu knapp. Ergo musste er sich auf Modifikationen beschränken, die sich relativ schnell umsetzen ließen. So ließ er die obere der beiden ringförmig um das Gerät gelegten Auslassöffnungen verschließen, um den Luftmassenstrom auf die untere Auslassöffnung zu konzentrieren und modifizierte zudem die Strömungsführung der Leitbleche. Die Klärung der Frage, inwieweit diese Modifikationen zu einer durchschlagenden Verbesserung der Flugeigenschaften führen würden, musste er der National Aeronautics and Space Administration, kurz NASA, überlassen. Denn unmittelbar nach diesen Umbauten musste der Prototyp in eine Kiste verpackt und auf die Reise geschickt werden.
Zustelladresse war das zum Ames Research Center der NASA in Moffett Field, Kalifornien. Hier wurde VZ-9AV umfangreichen Testläufen im Windkanal unterzogen. Während die Tests in Moffett Field noch liefen arbeitetete Frosts Team unter Hochdruck an der Fertigstellung des zweiten Prototypen, der nach Übergabe an die Air Force auf der Edwards Base in Kalifornien ausgedehnten Flugtests unterzogen wurde.
Zwischen Juli 1960 und Juni 1961 absolvierte Testpilot Major Walter J. Hodgson insgesamt 75 Flugstunden mit dem Gerät. Dabei erreichte VZ-9AV eine Höchstgeschwindigkeit von 56,3 Kilometern in der Stunde. Auch hier zeigte sich wieder das gewohnte Flugverhalten. Ab einer Flughöhe von 0,9 Metern wurde die Maschine instabil. Ursache hierfür waren sich aufschaukelnde, dynamische Effekte, die auf das kurzzeitige Verlassen des Bodeneffekts und das anschließende Wiedereintauchen des Fluggeräts zurückgeführt wurden. Mit der Leistung der Triebwerke hatte das nichts zu tun. Angesichts dieser bescheidenen Flugleistungen bot VZ-9AV kaum mehr als ein herkömmlicher Pkw. So bürgerte sich unter den amerikanischen Technikern schnell der Name ein, unter der für das ganze Projekt bis heute als Synonym steht: Avrocar.

Das Aus für die fliegende Untertasse

Unterdessen lagen auch die Ergebnisse der Windkanaltests vor. Sie offenbarten, das Avrocar auch bei höheren Geschwindigkeiten aerodynamisch unstabil bleiben und sich als kaum steuerbar erweisen würde. Selbst Testläufe mit einem angebauten konventionellen Leitwerk brachten keine Verbesserung. Damit war klar, dass das Avrocar für die Fortbewegung immer auf die Aufrechterhaltung eines Luftkissens angewiesen bleiben würde. Das von Anfang an verfolgte Konzept eines Übergangs vom Schwebezustand in einen aerodynamisch gestützten Flug erwies sich mit dieser Konstruktion als nicht umsetzbar. Im Dezember 1961 beschloss die Air Force endgültig, das Programm zu beenden.
Muss das Avrocar also als kompletter Irrweg angesehen werden? Keineswegs! Mit dieser Vorgeschichte im Hinterkopf wird es niemanden wirklich wundern, dass ausgerechnet der mittlerweile an Harrier verkaufte Mutterkonzern von AVRO Canada mit dem Hawker Siddeley Harrier nur wenige Jahre später als erster und lange Zeit einziger Hersteller ein senkrecht startendes Kampfflugzeug auf die Beine stellte. Und auch die dem Avrocar zugrundeliegende Idee des „Aerodina Lenticulara“ des Rumänen Henri Coandă erwies sich in Gestalt des Dynafan der Firma Astro Kinetics bereits 1964 in Form eines reines Luftkissengefährts als grundsätzlich realisierbar. Seit einiger Zeit beschäftigt sich offenbar ein amerikanisches Sturt-up erneut mit dem Konzept. Ein im Netz verbreitetes Video untermauert zumindest anschaulich die mit einem Fluggerät nach Coandăs Konzept erzielbaren Flugleistungen.


Teil 1 der Geschichte unter: „Die fliegende Untertasse – ein geheimes Militärprojekt​“
 

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