Ingenieur auf vier Beinen

Der Mensch ist nicht das einzige Lebewesen, das aktiv in seine Lebensumwelt eingreift und sie nach eigenem Gutdünken neu gestaltet: Ohne Rechenschieber und Maschinenpark bringen es zum Beispiel Biber fertig, mit ihren Dämmen ganze Gewässer umzugestalten und „künstliche“ Stauseen zu schaffen. Die aufs innigste mit dem feuchten Element verwachsenen Tiere gehen dabei aber völlig anders vor als der Mensch beim Bau von Talsperren und Staudämmen. Dennoch gibt es bisweilen interessante Parallelen
Jean Thie brütete in den späten Abendstunden des 2. Oktober 2007 über einer Reihe aktueller Satellitenaufnahmen von Kanadas bewaldetem Norden. Seit Jahren war er der allmählichen Verschiebung der Permafrostgrenze in Richtung Norden auf der Spur. Diese Aufgabe war schon allein wegen der enormen Größe des Landes nur mit Hilfe modernster Satellitentechnik zu bewältigen. Als klare Flecken in einem ansonsten weitgehend homogenen Vegetationsteppich erkennbare abrupte Änderungen in der Vegetation dienen dabei als Indikatoren für Permafrostflächen. An jenem Abend war Jean über einige Aufnahmen aus dem Wood-Buffalo-Nationalpark gestolpert, auf denen eben solche Flecken zu sehen waren. Doch sie passten von ihrer Form her überhaupt nicht in das gewohnte Schema. Was konnte das sein?

Unbekanntes Objekt in der Tundra

Der umsichtige Forscher notierte peinlichst genau die Koordinaten des auffälligsten dieser Flecken und erkundigte sich nach einem Helikopter-Überflug des Canadian Wildland Fire Information Systems, mit dem Thies Forschungsinstitut seit Jahren zusammenarbeitete. Wenige Tage später hatte er detaillierte Luftaufnahmen der Stelle auf seinem Schreibtisch. Die von ihm lokalisierten Flecken ließen sich allerdings nicht als Permafrost-Inseln inmitten dieses Sumpfgebiets identifizieren. Der aus dem All erkennbare Fleck entpuppte sich eindeutig als Wasserfläche, die an ihrem nördlichen Rand abrupt endete. Dafür konnte es nur eine Erklärung geben: Hier handelte es sich um einen Damm und für den konnte in dieser Wildnis nur der kanadische Biber verantwortlich sein. Noch am gleichen Abend bestimmte Thie über Google Earth die Größe der von ihm ausgemachten Struktur. Auf sagenhafte 850 Meter käme das Gebilde in seiner größten Ausdehnung.
Biber sind reine Pflanzenfresser und ernähren sich in erster Linie von Zweigen, Rinde und Blättern der in ihrem Lebensraum vorkommenden Gehölze. Da die Tiere nachtaktiv sind, schlafen sie tagsüber in Wohnhöhlen sogenannten Biberburgen – bis zu mehrere Meter hohen, geschickt aufgetürmten „Haufen“ von Astwerk. Um zu erreichen, dass der Eingang zu ihrer Behausungen zum Schutz vor Feinden stets mindestens 80 Zentimeter unter Wasser liegt, haben die Tiere im Laufe der Evolution gelernt, das Niveau der Wasserläufe ihrer Umgebung aufzustauen und zu diesem Zweck Dämme zu errichten. So bringen es Biber fertig, den Wasserstand von Rinnsalen und Bächen bis hin zu mehreren Metern zu stauen und damit ganze Flächen zu überfluten.

Nagetiere mit Hang zum Gigantismus?

Aber wie kommen Tiere, die gewöhnlich Dämme von 20 bis 30 Metern, ausgesprochen selten auch einmal 100 Metern Länge errichten, auf ein derart riesiges Bauwerk? Das schien, so stellte sich beim eingehender Betrachtung heraus, mit den spezifischen Bedingungen des Geländes südlich des Lake Claire am Fuße der rund 850 Meter hohen Hügelkette der Birch Mountains zusammenzuhängen. Gemäßigte Niederschläge, ein sachte nach Norden abfallendes Geländerelief und eine beachtliche Drainagefähigkeit des Bodens führen hier dazu, dass ein Großteil der Niederschläge sehr langsam durch den nur wenige Meter starken moorigen Untergrund in Richtung des Lake Clair abfließt. Um hier zu einem anhaltenden Wasserstand von mindestens einem Meter zu kommen, ist in der Tat ein sehr langes und halbkreisförmiges Absperrbauwerk nötig.
Bereits auf den Satellitenaufnahmen waren inmitten der Wasserfläche zwei gigantische Wohnburgen auszumachen, deren schiere Größe schon dafür sprach, das sie als Behausung für eine größere Anzahl von Tieren dienten und somit auch für den Dammbau von einem arbeitsteiligen Gemeinschaftsprojekt auszugehen. Dennoch war es kaum vorstellbar, dass eine kleine Gruppe von Tieren diesen riesigen Damm hätte erbauen können. Indessen gäbe es dafür auch noch andere Erklärungen: So führte der Vergleich mit älterem Fotomaterial dann schnell zu der Erkenntnis, dass das Stauwerk ein Alter von mehr als 25 Jahren haben musste. Denn bereits auf den ältesten verfügbaren Satellitenbildern dieser Region von 1990 war der Biberstausee des Wood-Buffalo-Nationalparks auszumachen. Hier müssen also mehrere Generationen von Bibern zu Werke gegangen sein.

Das Vergleichsobjekt: Der Hoover Dam

Angesichts der unglaublichen Größe des Bauwerks drängt sich natürlich der Vergleich mit einem von Menschenhand erbauten Staudamm oder einer Talsperre auf. Doch kann man tatsächlich davon ausgehen, dass die Natur es mit den von Menschenhand errichteten Mega-Talsperren aufnehmen kann? Der Biber-Damm im Wood-Buffalo-Nationalpark in der kanadischen Provinz Alberta legt das nahe. Mit seiner Ausdehnung von 850 Metern erreicht er gut und gerne die doppelte Breite des weltberühmten Hoover Dams im Black Canyon!
An der Stelle, wo sich seit 1935 dessen 221,46 Meter hohe Staumauer den Fluten des Colorado entgegenstellt, musste sich der Strom vormals durch ein enges Nadelöhr des hier mehrere hundert Meter tief eingegrabenen Canyons Bahn brechen. Insofern ist die vorherrschende Situation eine völlig andere. Der Hoover Dam staut den Colorado auf eine Höhe von 180 Metern; der resultierende riesige Stausee erreicht eine Länge von 170 Kilometern. Bei Vollstau kommt er auf ein Volumen von 35.154 Millionen Kubikmetern Wasser. Um derartige Kräfte zu bändigen, sah man in den Dreißigerjahren eine am Fuße sage und Schreibe 201Meter dicke Staumauer vor, die saus rund 2,6Millionen Kubikmetern Beton und 43.500 Tonnen Stahl besteht. Hier kann der Damm im Wood-Buffalo-Nationalpark natürlich nicht mithalten. Dennoch wird die Höhe des Damms auf rund viereinhalb Meter geschätzt. Um dem resultierenden Wasserdruck standzuhalten, muss er an seinem Fuße eine Stärke von rund sieben Metern aufweisen.

Jenseits der puren Dimensionen

Wenn auch mit dem Bau des Hoover Dam eines der damals leistungsstärksten Kraftwerke entstand, war (und ist bis heute) der Hauptzweck der Talsperre die kontrollierte Wasserabgabe für Arizona, Nevada und Kalifornien. Die früher zum Teil bedrohlichen Hochwasser des ehemals reißenden Stroms wurden durch das Bauwerk gebändigt und ein gleichmäßiger und zudem beruhigter Abfluss gewährleistet werden. Für den Fall etwaiger Flutwellen, die die Staumauer gefährden könnten, verfügt er über ein Ablauf-System, mit dessen Hilfe die Wassermassen im Zweifelsfall sicher abgeleitet werden können. Auch der Damm im Wood-Buffalo-Nationalpark stellt einen gleichmäßigen Abfluss des Wassers sicher. Doch natürlich gibt es in der Natur keinen eigenen Bauwerksteil für die Regulierung des Wasserstands. Letztlich ist das Problem hier aber viel eleganter gelöst: Ist ein Biberdamm aufgrund starker Regenfällen bedroht, öffnen die Tiere binnen kurzer Zeit ihren Damm und lassen das Hochwasser ablaufen.
Bei der Errichtung eines Absperrbauwerks in einem Fließgewässer stellt sich für den Laien natürlich die Frage, wie in einem permanenten Strom der Bau eines Dammes oder einer Staumauer möglich ist. Im Falle des Hoover Dam wurden für die Errichtung zunächst zu beiden Seiten der späteren Staumauer zwei Tunnel mit einem Durchmesser von 17 Metern durch die Felswände der Schlucht getrieben und der Colorado anschließend durch diese umgeleitet. So konnte das ursprüngliche Flussbett trocken gelegt und mit den Gründungsarbeiten begonnen werden. Nach Fertigstellung der Staumauer wurden diese Tunnel wieder verschlossen und der Stausee füllte sich allmählich. Derart weitreichende Planungen gibt es in der Natur nicht. Nicht selten schafft aber ein an geeigneter Stelle gefällter Baum die stabile Basis für einen künftigen Damm. Biber sind mit ihrem kräftigen Gebiss in der Lage, in einer einzigen Nacht einen Baum mit einem bis zu 50 cm dicken Stamm zu fällen und sie machen von dieser Fähigkeit reichlich Gebrauch. Und da die Tiere in der Lage sind, bis zu 15 Minuten zu tauchen, werden viele Arbeiten eben unter Wasser erledigt.

© 2016 Peter Leuten - peter-leuten.de